Doppelgänger

„Ist das nicht der Wahnsinn?“ Benni war aufgeregt. Mehr als das. In seinen Händen hielt er das Ergebnis tagelanger Entbehrung und einer gefühlten Ewigkeit des Sparens. Seit Wochen drehte er jeden Cent zweimal um. Alle Ausgaben wurden auf ein Minimum beschränkt. Und das alles nur für dieses Gerät.

„Und ich hab gedacht, du verarschst mich, als du meintest, dass du dir…“

„… dass ich mir die neuste Version besorge? Ehrlich gesagt, ich hab ja anfangs selbst nicht dran geglaubt.“

„Na gut. Dann mach mal an das Ding.“

„Hmm? So leicht geht das auch wieder nicht. Der muss erstmal Analyse betreiben.“

„Echt jetzt? Und wie lang dauert das im Allgemeinen?“

„In der Werbung stand was von drei bis sechs Wochen.“

„Das wär mir schon viel zu blöd, glaub ich.“ Cliff drehte das kleine Kästchen in den Händen hin und her. Wenn diese Dinger nicht so teuer gewesen wären, hätte er sich wahrscheinlich auch einen geholt. Aber zu dem Preis?

„Neidisch?“, fragte Benni und grinste. Er griff nach dem Apparat.

„Bin nicht sicher“, antwortete Cliff. „Interessieren würds mich auf jeden Fall. Aber ich tät kein Geld dafür ausgeben.“

„Ja, so geht’s den meisten. Angeblich kommt aber in ein paar Jahren einer raus, der zentral verwaltet wird.“

„Im Ernst?“

„Stand zumindest so in der letzten Ausgabe der Connected.

„Das heißt dann, jeder kann sich seine eigenen Alternativen anzeigen lassen?“

„Ja, aber das läuft dann bestimmt über ein monatliches Abo oder so.“

„Wundern würds mich nicht. Bis dahin hängt da dann ne Mordslobby hintendran.“ Cliff nahm die Bedienungsanleitung aus der Packung und blätterte sie kurz durch. „Hehe“, lachte er. „Zorg ervoor dat je de veiligheidsinstructies volgt voordat je je persoonlijke parallelle universum binnengaat.“

Benni verschluckte sich. „Wie bitte?“, lachte er.

„Moment – ah hier! Beachten Sie unbedingt die Sicherheitshinweise, bevor Sie in Ihr persönliches Parallel-universum eintreten.“

„Das hätt ich mir auch so denken können. Guck mal nach Inbetriebnahme.“

„Ja, Moment.“ Cliff blätterte zu einer bestimmten Seite des Büchleins und überflog sie kurz. „Hmm“, sagte er. „Nicht sonderlich kompliziert. Es ist auf dich registriert. Das heißt es verbindet sich automatisch mit deinem Heimnetz. Dann hat es bereits Zugriff auf alle Daten die nötig sind. Der Rest ist nur noch Profilerstellung.“

„Und dafür braucht der so lange?“ Benni drehte das kleine Gerät ebenfalls in den Händen hin und her. „Unglaublich, was damit alles möglich ist.“

„Im Prinzip nur ne weitere Spielerei, wenn mans genau nimmt.“

„Aber eine, die dein Leben verändern kann.“ Bennis Augen blitzten, als er den Kasten begutachtete.

„Was glaubst du denn, was es für dich tun kann?“

„Naja“, sagte Benni. „Stell dir vor, du erfährst von einem deiner parallelen Ichs die Lottozahlen für nächste Woche?“

„Du weißt schon, dass das Teil nicht in die Zukunft gucken kann, oder?“

„Ja schon! Aber was, wenn dir dein Gegenüber erzählt, wie er bereits ein Haufen Kohle gemacht hat und dir ein paar Anlagetipps gibt?“

Cliff verzog die Augenbrauen.

„Hmm“, machte er. „Bei aller Faszination. Ich glaub, genau das ist der Grund, warum ich mir doch keinen zulegen wollen würde.“

„Was meinst du?“

„Naja, der erste Gedanke, der damit unmittelbar im Zusammenhang steht, ist Wie komm ich am schnellsten an viel Kohle ran? Gefällt mir nicht so.“ Benni schaute auf das Display des Geräts.

Sammle Daten

„Na entschuldige mal“, sagte er und steckte den Apparat in die Tasche. „Du musst ja auch nicht jeden Cent zweimal umdrehen, bevor du dir was leisten willst. Mit deinem Job hast du schließlich gut ausgesorgt!“

„Oh, bitte! Nicht schon wieder das Thema. Du hast doch genau dieselben Chancen gehabt wie ich. Aber im Gegensatz zu dir hab ich meinen Abschluss gemacht und bin nicht jeden Abend unterwegs gewesen!“

„Ach, jeden Abend war ich auch wieder nicht unterwegs.“

„Es hat auf jeden Fall gereicht, dich ein paar Mal durch die Prüfungen rasseln zu lassen. Und die ganzen Jobs, die du in den letzten Jahren gemacht hast? Der ganze Stress, den du deswegen hattest? Das hättest dir alles ersparen können.“

„Ja, weiß ich selbst. Aber jetzt mit Mitte Dreißig kann ichs eh vergessen, nochmal zu studieren.“

„Ach, Blödsinn. Dasselbe hast du vor fünf Jahren schonmal gesagt. Hättest dich damals schon eingeschrieben, wie ichs dir da nochmal gesagt hab, könntest jetzt schon fertig sein.“

„Hätte, hätte, Fahrradkette.“

Cliff seufzte tief. Er merkte, dass Benni zu blocken begann. Und Benni blockte, weil er diese Art der Diskussionen bereits zu genüge kannte. Nicht nur mit seinem besten Kumpel. Eigentlich mit jedem aus seinem Jahrgang. Na gut, zumindest mit jedem, mit dem er noch Kontakt hatte.

Cliff legte die Bedienungsanleitung wieder auf den Tisch zurück. Benni kam es so vor, als ob er einen Grund vorschob, sich zu verabschieden. Angeblich musste er noch einkaufen. Weil morgen Wochenende war und das sonst zu stressig werden würde. Da hatte Benni ganz klar einen Vorteil. Keine Familie, kein Versorgungsstress.

Als die Tür ins Schloss fiel, fiel Benni in seinen Sessel. Er konnte es kaum erwarten, bis der Apparat genügend Daten gesammelt hatte, um ihm seine Parallelwelten zu simulieren. Es war bestimmt irgendwie möglich, aus der Sache Profit zu schlagen. Benni schloss die Augen.

Als er sie wieder öffnete, spürte er einen Schauer den Rücken hinaufkriechen. An der Wand gegenüber sah er jemanden. Jemand, der ihm unheimlich ähnlichsah. Jemand, der ihm sogar so ähnlichsah, dass man meinen könnte, dort hinge ein Spiegel. Nur wusste er ganz genau, dass dort kein Spiegel hing. Neben demjenigen, der so aussah wie er, war noch eine weitere Person zu sehen. Und diese begann in dem Moment zu sprechen, als Benni sich noch überlegte, was er davon halten solle.

„Siehst Du Benni, das wäre aus dir geworden, wenn du dein Studium geschmissen hättest und jeden Abend saufen gegangen wärst.“

„Oh meine Güte“, hörte er seinen Doppelgänger sagen. „Okay, das reicht jetzt. Bring mich bitte wieder zurück nach Hause zu meiner Familie.“

Die Erscheinung verschwand ohne ein weiteres Geräusch.

Benni blickte fassungslos mehrere Minuten an die leere Wand. Dann blinzelte er kurz und schaute auf den Apparat.

Sammle Daten

Benni schaltete das Gerät aus und legte es zur Seite. Dann öffnete er den Laptop und tippte die Adresse seiner ehemaligen Universität ein.

Gute Nacht 1 v. 3

Schon vor Monaten waren Astrophysiker auf die Bedrohung aufmerksam geworden. Tage der Berechnungen folgten. Tage des Bangens einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern, die sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit einigelten und die Rechnerkapazitäten ihres Netzwerkes aufs Unermesslichste ausreizten.

Als das Ergebnis bekannt wurde, waren Regierungsbeamte die ersten, die eine ungefähre Ahnung des Zerstörungsausmaßes haben sollten.

Schnell wurde klar, dass danach nichts mehr so sein würde, wie es mal war.

 Sarah lag mit Papa im Bett und kuschelte sich an ihn.

Weitere Wochen der Beratung folgten. Und der Unfälle derjenigen Wissenschaftler, die ihren Unmut über die Nachrichtensperre den falschen Leuten gegenüber ausdrückten. Unfälle, die laut kleinen Kreisen von Verschwörungstheoretikern keine gewesen sein konnten. Ein Raunen ging durch die Bevölkerungsschichten. Nach außen hin wurde alles dementiert.

Niemand in der Gesellschaft nahm die Bedrohung ernst, da es sie offiziell nicht geben durfte.

Im Verborgenen wurden Pläne laut von unterirdischen Bunkern. Vom Horten von Saatgut, eingefrorenen Embryonen und Lebensmitteln. Und von einer Elite, die das Privileg haben durfte, sich in den Bunkern einen Platz zu ergattern. Ein Plan, der nach Kurzem bereits verworfen wurde. Zuviel Aufwand in einem zu kleinen Zeitfenster. Und mit geringster Aussicht auf Erfolg.

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