Niemand in der kleinen Stadt Wendelstein kannte die Villa am Waldrand so gut wie der Geist, der dort hauste. Sein Name war Eduard von Falkenstein – oder zumindest war das sein Name, bevor er 1892 bei einem tragischen Treppensturz sein Leben verlor. Seitdem spukte er in dem alten Gemäuer, vertrieb Einbrecher, beobachtete neugierige Kinder und langweilte sich. Fürchterlich.
Moderne Technologie hasste er. Fernseher, Computer, Smartphones – alles Unfug. Dennoch hatte er sich über die Jahrzehnte einiges angeeignet. Englisch, weil es ständig im Fernsehen lief. Kochen, weil eine Hobbyköchin eingezogen war (und schnell wieder ausgezogen war, nachdem ihre Töpfe nachts flogen). Und: Zahlen. Eduard hatte eine erstaunliche Affinität zu Zahlen entwickelt. Sudoku, Kreuzworträtsel, Schachzüge – darin fand er ein wenig Trost. Aber nichts faszinierte ihn so sehr wie die seltsame Tradition der Menschen, sechs Zahlen zu wählen in der Hoffnung auf Reichtum: Lotto.
Er beobachtete die Bewohner bei diesem Ritual. Sie saßen vor flackernden Bildschirmen, schwitzten, beteten, zählten ihre Kreuze auf kleinen Zetteln. Und manchmal – ganz selten – jubelten sie. Dann gab es Champagner, Umarmungen, Pläne für die Südsee.
„Wie absurd“, murmelte Eduard einst, „als ob man durch ein Spiel sein Schicksal ändern könnte.“
Aber irgendwann wurde aus Spott Neugier. Und aus Neugier wurde Besessenheit.
Es war ein regnerischer Dienstagabend, als Eduard beschloss, selbst zu spielen. Natürlich konnte er keinen Lottoschein kaufen – er war ja tot. Aber im Haus wohnte zurzeit ein junger, zerstreuter Programmierer namens Tim. Tim war pleite, hatte aber immer wieder Lottoscheine auf dem Küchentisch liegen. Er tippte meist dieselben Zahlen: Geburtstage, Hochzeiten, Lieblingszahlen.
„Langweilig“, schnaubte Eduard. „Statistisch unklug.“
In dieser Nacht erschien er Tim im Traum. Es war nicht das erste Mal, dass Eduard mit Träumen spielte – das war eine seiner wenigen echten Fähigkeiten. Er flüsterte sechs Zahlen in Tims Ohr: 7, 12, 19, 24, 31, 42. Und am nächsten Morgen tippte Tim – ohne es recht zu wissen warum – genau diese Zahlen auf seinem Lottoschein.
Samstagabend. Die Ziehung lief. Eduard schwebte durch den Raum, nervös wie ein Schuljunge vor der ersten Tanzstunde.
Erstes Zahl: 7.
Zweites Zahl: 12.
Drittes Zahl: 19.
Eduards Aura flackerte.
Viertes Zahl: 24.
Fünftes Zahl: 31.
Sechste Zahl: 42.
„Ich… ich hab gewonnen!“ rief er – und fiel vor lauter Schock durch den Dielenboden.
Natürlich war es offiziell Tims Gewinn. 23 Millionen Euro. Der junge Mann war so überrascht, dass er fast die Ziehung verpasste. Er schrie, tanzte, rannte nackt durch die Villa – was Eduard mit aristokratischem Ekel beobachtete. Doch dann kam die entscheidende Frage: Was nun?
Eduard war kein gewöhnlicher Geist. Er hatte nie nach „Licht“ gesucht, hatte nie an Erlösung geglaubt. Aber 23 Millionen Euro bedeuteten Möglichkeiten. Einfluss. Vielleicht sogar… eine Form von Leben?
In den folgenden Nächten besuchte er Tim wieder und wieder im Traum. Er redete auf ihn ein. Zuerst subtil, dann immer direkter.
„Spende nichts“, sagte er. „Investiere in Grundbesitz. Kaufe das Haus.“
Tim hörte, gehorchte – in Trance fast. Er begann, sich anders zu benehmen. Kalt. Geschäftlich. Als hätte ihn der Reichtum verdorben – oder als würde jemand anderes aus ihm sprechen.
Doch irgendwann wehrte sich Tims Unterbewusstsein. Eines Nachts wachte er mitten in einem „Traum“ auf – und stand dem durchscheinenden Geist von Eduard von Falkenstein gegenüber.
„Du… Du bist echt?“
„Natürlich bin ich echt. Wer, glaubst du, hat dir die Zahlen gegeben?“
„Aber… warum?“
Eduard lächelte. „Ich brauche dich. Dein Körper. Dein Konto.“
„Du willst mich… besitzen?“
„So dramatisch würde ich es nicht nennen“, sagte der Geist. „Eine Partnerschaft. Ich bringe dir Glück, du bringst mir… Agenturverträge, Besitztitel, Kapital.“
Tim schüttelte den Kopf. „Das ist verrückt.“
„Und doch…“ Eduard streckte die Hand aus, „… bist du reich geworden, als du mir gefolgt bist.“
Tim willigte ein – vorerst. Die Vorstellung, Reichtum mit einem Geist zu teilen, klang zwar wie aus einem schlechten Film, aber Eduards Ratschläge waren genial. Innerhalb eines Jahres hatte Tim, unter der Leitung seines „Beraters“, sein Vermögen verdoppelt. Immobilien. Aktien. Kryptowährungen. Selbst ein Schloss in der Schweiz. Und niemand konnte erklären, woher der Junge das Gespür hatte.
Aber Tim veränderte sich. Er wurde müde. Blass. Er spürte, wie Eduards Einfluss wuchs. Nicht nur in seinen Träumen, sondern auch am Tag. Gedanken kamen, die nicht seine waren. Worte, die er nie gelernt hatte. Alte Redewendungen. Latein.
Er suchte Hilfe. Priester. Psychologen. Exorzisten.
Doch Eduard war ein höflicher Geist. Charmant. Er manipulierte. Er schmeichelte. Und jeder, der Tim helfen wollte, verließ ihn mit dem Gefühl: Der Junge ist nur überarbeitet.
Eines Tages beschloss Tim, zu fliehen. Er packte das Nötigste und floh in ein billiges Motel, weit weg von allem. Kein Internet. Kein Strom. Keine Spiegel.
Doch Eduard fand ihn.
„Warum tust du das?“ fragte der Geist, diesmal nicht mehr charmant, sondern drohend. „Du brauchst mich.“
„Nein“, sagte Tim. „Ich war glücklich, bevor du kamst. Arm, aber frei.“
„Freiheit ist eine Illusion“, knurrte Eduard. „Was ist ein Leben ohne Einfluss? Ohne Sicherheit? Ich habe dir ein Königreich gegeben.“
„Aber der Preis ist meine Seele.“
Eduard schwieg.
Dann, langsam, zog er sich zurück. „Vielleicht… Vielleicht war ich zu fordernd. Du brauchst Zeit. Raum. Ich gebe dir beides.“
Und er verschwand.
Wochen vergingen. Tim ging wieder arbeiten – in einem kleinen Café. Einfach, anonym. Der Reichtum lag unberührt auf einem Konto, auf das er nicht mehr zugriff. Er dachte, er hätte Frieden gefunden.
Bis eines Morgens die Zeitung titelte:
„Exzentrischer Millionär stiftet Millionen an Stiftung für historische Bauwerke – anonym.“
Und dann:
„Unbekannter Investor rettet Falkenstein-Villa vor Abriss – neues Museum geplant.“
Tim wusste: Eduard hatte nicht aufgegeben. Der Geist hatte sich einen neuen Weg gesucht. Vielleicht sogar jemand neuen.
Oder – schlimmer – er hatte nie ihn gebraucht. Nur das Geld. Die Form. Den Zugang zur Welt der Lebenden.
Letzte Szene.
Ein Museumsführer zeigt einer Gruppe Touristen die prächtige Falkenstein-Villa. „Und hier, meine Damen und Herren, sehen Sie das originale Arbeitszimmer des Eduard von Falkenstein, eines hochgebildeten Adligen des 19. Jahrhunderts. Man sagt, er sei ein großer Freund der Zahlen gewesen – und der Spekulation. Der heutige Museumsbetrieb wird übrigens von der Falkenstein-Stiftung finanziert. Ein anonymer Gönner… ein echter Glücksfall.“
In der Dunkelheit, im Schatten der Bücherregale, flackert kurz eine Gestalt. Und ein leises Kichern hallt durch den Raum:
„Ein echter Glücksfall… in der Tat.“