Bratzl stand vor dem Spiegel. Genauer gesagt: einem staubigen, rissigen Wandspiegel im Abstellraum seiner winzigen Wohnung, die irgendwo zwischen zwei Abschnitten im alten Viertel von Muggelbrueck klemmte. Er hatte sich extra einen neuen Schal gekauft. Rot. Auffaellig. Vielleicht sogar und das war sein heimlicher Wunsch symbolisch.
Er uebte.
Vorsicht!, rief er, erst laut, dann leiser, dann mit einem kleinen Schluchzer am Ende. Dann probierte er es mit einem fragenden Unterton: Vorsicht?
Seit der letzten Gruppensitzung liess ihn das Geruecht nicht los: Eine Nebenfigur soll zur Hauptfigur werden. Und er? Er war immerhin mal fast eine Dialogzeile gewesen. Gut, der Held war damals einfach weitergeritten. Aber vielleicht vielleicht hatte man ihn gesehen.
Unten auf der Strasse balancierte Ylli einen Stapel Seitenfragmente. Papier, das nie final redigiert wurde. Sie trug wieder ihren alten Umhang. Er war nicht elegant, aber er hatte Erinnerungen in den Fasern. Auf dem obersten Blatt war ein Satz mit Luecke:
Sie blickte in den Spiegel und sah weiter kam der Satz nie.
Ylli las ihn immer wieder. Vielleicht, so hoffte sie, wuerde die Luecke sich irgendwann von selbst fuellen.
In Raum 3b war es heute stiller als sonst. Knorp sass bereits auf seinem Platz. Vor ihm ein kleines Glas mit lauwarmem Wasser und einem alten Bierdeckel, auf dem Hoffnung stand durchgestrichen.
Ich hab nie mehr als zwei Saetze gesagt, meinte Knorp ploetzlich. Aber ich erinnere mich an die Szene. Ich hab jemandem die Tuer aufgehalten. Dann war ich weg. Vielleicht war ich nie mehr als ein Griff zur Klinke.
Ylli setzte sich neben ihn. Aber du warst da. Und das ist mehr als nichts.
Bratzl kam herein. Diesmal mit Schal. Und einem entschlossenen Blick.
Ich habe einen Text geschrieben, sagte er und holte ein handbeschriebenes Blatt hervor. Es ist kein Monolog. Es ist eine Szene. Mit mir. In der ich entscheide, ob ich eingreife oder zuschaue.
Lula, die bisher still geblieben war, blickte auf. Ihr roter Ball lag zu ihren Fuessen.
Und?, fragte sie leise. Was hast du getan?
Bratzl nickte. Ich habe geschrien. Nicht nur ‚Vorsicht‘. Ich habe gesagt: ‚Nicht so. Nicht heute. Nicht bei mir.‘ Und dann dann wurde ich gehoert.
Stille.
Die Erzaehlerstimme knisterte schwach. Wie ein aufwachender Funke.
Ylli nickte langsam. Vielleicht… koennen wir uns neu schreiben.
Knorp zuckte mit den Schultern, griff nach dem durchgestrichenen Bierdeckel, und drehte ihn um. Auf der Rueckseite stand: Beginnen.
Bratzl laechelte. Es war kein Heldenlaecheln. Aber ein echtes.
Vielleicht war das der erste echte Schritt.
Vielleicht, dachte jeder von ihnen, hatte ihre Geschichte gerade erst angefangen.