Jennifer

„Abendessen ist fertig!“

Katelyn hatte ordentlich aufgetischt.

Marc gefiel das. Und es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ihm wieder etwas gefiel, das Katelyn machte. In den letzten Jahren war ihre Ehe ziemlich eingeschlafen.

Jetzt hatte er sogar ein schlechtes Gewissen, dass er sie mit Jennifer betrog.

 

Der Braten war köstlich.

Weich. Zart. Saftig. Die Soße dazu ein Traum. Selbstgemachte Kroketten. Salat. Nachtisch.

 

Eigentlich wollte er sich heute mit Jennifer zum Abendessen treffen. Aber das konnte er auch noch absagen.

Er ging in die Küche und schrieb eine SMS an Jennifer.

Der Klingelton kurz darauf kam aus der Mülltonne.

 

Der Braten war köstlich.

Reese

Er vermied es mittlerweile mit seinen Haustieren die Strecke an den Feldern entlangzulaufen, da die Angst immer noch zu tief in ihm saß. Vor knapp zwei Jahren war er das letzte Mal hier. Bingo hatte es damals sichtlich genossen, durch die hohen Maisfelder zu springen und alles zu beschnüffeln.

Jetzt hatte er immer Angst um seine Tiere, wenn er mit ihnen draußen war.

Sie hatten den Täter nie erwischt, der Bingo das angetan hatte. Stundenlang quälte er sich. Blutiger Stuhl, Blutiger Auswurf. Eine ganze Nacht lang quälendes Jaulen.

Heute fuhr er zum selben Feld, an dem Bingo damals den vergifteten Fleischklumpen gefressen hatte.

Reese schnüffelte aufgeregt.

Reese war Bingos Nachfolger. Er saß auf der Ladefläche seines Trucks. Er war um einiges größer als Bingo.

Er hielt an und öffnete die Ladepritsche. Reese sprang direkt runter und sauste in das Maisfeld. Kurz darauf ertönten die ersten qualvollen Schreie.

 

Sie hatten den Täter nie erwischt.

Er hatte ihn erwischt.

Reese würde wahrscheinlich mächtig Spaß mit ihm haben.

Wildschweine fressen alles.

Das letzte Gefecht

General Sherman lag auf der Lauer. Aus dem Graben heraus drang ein unerträglicher Gestank. Körper um Körper stapelte sich und verpestete die Luft. Der letzte Krieg, hieß es. Danach in die Heimat hieß es. Die Vergonier waren stark. Seit Monaten schlugen die Pretoxidbomben in die Wohnhäuser der umliegenden Dörfer ein. Doch dieses hier sollte das letzte Gefecht werden.

Zu viele hatten sich dem Feind schon ergeben. Zu viele waren übergelaufen, um ihr eigenes, beschissenes Leben zu retten.

General Sherman stieg über die zerschundenen Körper aus dem Graben und rannte in Richtung der sich entfernenden Armee. Niemand hatte ihn in der Dunkelheit bemerkt. Der Sprengstoffgürtel war fest verdrahtet, so dass ihm die Erschütterungen eines Sprints nichts anhaben konnten. Sherman reihte sich in die Linien der feindlichen Kämpfer ein. Solange er sich in derselben Geschwindigkeit bewegen würde wie sie, würden ihre Sinnesorgane ihn nicht bemerken.

Scharf machen, entfernen, per Funk auslösen. Kein Problem, hieß es beim Briefing. Sherman macht das schon. Und die Explosion würde so ziemlich alles in Trümmern reißen, was von der Armee übrig war.

Sherman drückte den Knopf. Er blickte zum Bunker, in dem seine Kameraden den Sieg erwarteten. In dem sie ihn bei seiner Rückkehr wie einen Helden feiern würden. Und wie sie nun in einer gewaltigen Explosion in die Luft flogen und in den Tod gerissen wurden.

Zu viele waren übergelaufen, um ihr eigenes, beschissenes Leben zu retten.

Seines hatte er gerade gerettet.

Er reihte sich wieder in die Linien der feindlichen Armee ein.

Gute Nacht 3 v. 3

Sarah und Papa spürten nichts davon!

„So“, sagte Papa. „Stunde vorbei, jetzt ist Ende!“

Sarah schloss das Buch und sah Papa an. „Kann das bei uns auch passieren“, fragte sie.

„Ach was, Mäuschen, das ist doch nur Science-Fiction“, sagte Papa. „Du kannst morgen weiterlesen.“

Er gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss und löschte das Licht.

„Gute Nacht, mein Schatz!“

„’Nacht, Papa!“

Gute Nacht 2 v. 3

Papa schloss die Augen. Er wollte nicht einschlafen, solange Sarah noch wach war.

Er streichelte ihren Kopf. „Nicht mehr lange“, sagte er.

Die Regierung hatte jetzt erst die Bevölkerung gewarnt. Die befürchtete Massenpanik blieb aus, was wohl daran lag, dass der Bevölkerung die konkrete Uhrzeit des Einschlags genannt wurde. Man fand sich mit seinem Schicksal ab.

„Eine Stunde noch“, sagte Papa und das war bereits 50 Minuten her.

Sarah lag in seinem Arm. Ihr Papa zog sie allein groß. Er hatte seine ursprüngliche Arbeit aufgegeben, lebte von Gelegenheitsjobs, denen er online nachging, während Sarah in der Schule war oder im Bett lag.

„Nicht mehr lange,“ sagte Papa und hielt Sarah fest im Arm.

Der riesige Eis- und Gesteinsbrocken durchbrach die Atmosphäre des Planeten und verlor einen Teil seiner Masse in einem atemberaubenden Schweif, der den Nachthimmel erleuchtete. Der Einschlag war gewaltiger, als alles, was dieser Planet jemals in seiner Vergangenheit zu spüren bekommen hatte.

Ohne Verzögerung war die Vibration auf allen Kontinenten zu spüren. Die Feuerwalze brannte sich mit Hunderten Kilometern pro Sekunde vom Einschlagsort aus über die komplette Oberfläche des Globus.

3 v. 3

Gute Nacht 1 v. 3

Schon vor Monaten waren Astrophysiker auf die Bedrohung aufmerksam geworden. Tage der Berechnungen folgten. Tage des Bangens einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern, die sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit einigelten und die Rechnerkapazitäten ihres Netzwerkes aufs Unermesslichste ausreizten.

Als das Ergebnis bekannt wurde, waren Regierungsbeamte die ersten, die eine ungefähre Ahnung des Zerstörungsausmaßes haben sollten.

Schnell wurde klar, dass danach nichts mehr so sein würde, wie es mal war.

 Sarah lag mit Papa im Bett und kuschelte sich an ihn.

Weitere Wochen der Beratung folgten. Und der Unfälle derjenigen Wissenschaftler, die ihren Unmut über die Nachrichtensperre den falschen Leuten gegenüber ausdrückten. Unfälle, die laut kleinen Kreisen von Verschwörungstheoretikern keine gewesen sein konnten. Ein Raunen ging durch die Bevölkerungsschichten. Nach außen hin wurde alles dementiert.

Niemand in der Gesellschaft nahm die Bedrohung ernst, da es sie offiziell nicht geben durfte.

Im Verborgenen wurden Pläne laut von unterirdischen Bunkern. Vom Horten von Saatgut, eingefrorenen Embryonen und Lebensmitteln. Und von einer Elite, die das Privileg haben durfte, sich in den Bunkern einen Platz zu ergattern. Ein Plan, der nach Kurzem bereits verworfen wurde. Zuviel Aufwand in einem zu kleinen Zeitfenster. Und mit geringster Aussicht auf Erfolg.

2 v. 3

Yeez‘ Liste 8 v. 8

„Vielleicht solltest du mehr Sport machen!“

„Klasse Tipp!“ Man hörte den ironischen Unterton in Yeez Stimme.

„Naja“, sagte Claude, „wie auch immer du dich entscheidest, ich muss jetzt langsam mal los.“ Er legte das Kuvert auf den Tisch, das er bis eben immer noch in seinen Fingern hin und hergedreht hatte.

„Machs gut, Yeez. Ich komm heut nach Feierabend vielleicht nochmal vorbei!“ Claude trank den letzten Schluck aus und stellte die Tasse auf den braunen Fleck, der bereits in die Tischdecke eingezogen war.

„Hmm“ Yeez klang abwesend, als Claude die Tür zuzog. Ein eisiger Windhauch umwirbelte für ein paar Sekunden seine Beine.

Yeez öffnete das Kuvert. Fünf Seiten eines ausführlichen Berichts darüber, wie sich seine Handlungen auf die Leben anderer auswirkten.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“

Der Kaffee dampfte nicht mehr.

Yeez‘ Liste 7 v. 8

Yeez hatte einen Nerv getroffen. Natürlich hatte Samantha sich selbst dazu entschlossen den Schlussstrich zu setzen. Vielleicht wäre sie aber gar nicht erst in die Lage gekommen, wenn sie einen anderen Job gehabt hätte. Einen der nicht soviel mit dieser Chemikalienscheiße zu tun gehabt hätte. Vielleicht war es an irgendeinem gottverdammten Tag, an dem sie zu viel von irgendwelchen scheiß Dämpfen einatmete. Vielleicht wurde ihr der Job von irgendjemandem angeboten. Vielleicht hatte sie auf eine Annonce in der Zeitung reagiert, die sie nie gesehen hätte, hätte der Typ am Kiosk sie weiter nach hinten gelegt oder später oder was weiß ich.

Man konnte nie wissen, wie das Leben einem mitspielte. Schuld? Schuld konnte man immer irgendjemandem zuweisen. Irgendjemand tat immer irgendetwas, was sich auf irgendjemand anderen auswirkte.

Der Kaffee dampfte vor sich hin.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“ Yeez schüttete Zucker in die Tasse und rührte um. „Was machst du heut noch?“, fragte er beiläufig seinen Freund.

„Ich muss gleich zur Arbeit, was glaubst du denn?“

„Bin noch krankgeschrieben!“

„Schon wieder?“

„Seit Dienstag!“

„Du bist ziemlich oft krank in letzter Zeit!“

„Das fünfte Mal dieses Jahr. Zwei Wochen im Februar, eine Woche im März, ein paar Tage im Juni und zwei Wochen im November!“ Er schaute aus dem Fenster. Eine Schneedecke bildete sich langsam auf dem Fensterbrett.

8 v. 8

Yeez‘ Liste 6 v. 8

„Lass liegen!“, befahl Yeez. Der Kaffee dampfte vor sich hin und hinterließ einen Beschlag auf Claudes Brille.

„Was passiert denn schlimmstenfalls, wenn du ihn liest?“

„Was passiert denn schlimmstenfalls, wenn ich es nicht tue?“

Beide schwiegen.

„Darauf gibt es wohl keine eindeutige Antwort!“, sagte Claude schließlich.

„Wenn ich es tue, könnte das bereits das Leben eines anderen ändern. Wenn ich es vermeide ebenfalls. Und wenn ich ihn einfach entsorge, könnte ihn jemand anderes in die Finger kriegen. Stell dir vor du findest einen auf der Straße. Wenn jetzt auch noch Personen namentlich erwähnt werden…“

„Was meinst du?“

Yeez sah ihn an. „Der Tod deiner Frau damals!“

Claudes Augen weiteten sich. „Das hat nicht das geringste hiermit zu tun!“

„Wüsstest du nicht gerne, wer dafür verantwortlich ist?“

„Wenn jemand dafür verantwortlich ist, dann sie selbst!“ Claude nippte an dem Kaffee. Seine Stimme wurde merklich dünner. „Sie hat sich dazu willentlich selbst entschieden!“

„Vielleicht war es auch…“

„Was?“, unterbrach ihn Claude und wurde lauter. „Das ist fast sechs Jahre her. Wieso fängst du jetzt damit an? Es war Krebs, Herrgott noch mal!“ Er stellte die Tasse ab und hinterließ einen braunen Fleck auf der Tischdecke. „Sie hat sich selbst vor einem schlimmeren Ende bewahrt!“

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Yeez‘ Liste 5 v. 8

„Das ist doch keine Lebensaufgabe!“, sagte Yeez lapidar und hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ich will es einfach nicht wissen. Ich find es schon belastend genug, dass man überhaupt in Kenntnis darüber gesetzt wird, dass man jemanden auf dem Gewissen hat! Dann muss ich nicht auch noch wissen, wen!“

„Und die Leute, die dir ihr Leben zu verdanken haben?“

„Willst du jetzt jedes Mal eine Medaille, wenn sowas passiert?“

„Ach was! Es ist nur…“

„Was?“

„Naja, sowas wie ein Ausgleich. Du weißt schon. Zu dem, was man getan hat!“

„Was haben wir denn getan?“, schrie Yeez wütend. „Wir haben überhaupt nichts getan! Verstehst du? Ü-ber-haupt-nichts!“ Yeez lies sich auf den Stuhl neben Claude fallen. „Wir leben doch nur unser Leben. Was wir jeden Tag unabsichtlich mit unseren Handlungen beeinflussen – das kann man uns doch nicht anlasten!“ Er schnippte an die Kaffeetasse.

„Deswegen steht es doch auch nicht unter Strafe. Es ist ja nach wie vor eine Information!“

„Scheiß auf die Information!“

Eine Weile sagte niemand etwas.

„Die Ungewissheit ist schlimmer, oder?“ Claude hielt wieder das Kuvert in der Hand.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“

„Öffnen oder nicht?“

6 v. 8