Kurzgeschichtenanthologie

Während sich die Korrekturphase für den nächsten Teil der Fnyllreihe noch bis zum Herbst hinziehen wird, gibt’s dafür bald eine schöne erste Sammlung von Kurzgeschichten.

Manche sind nur ein paar Zeilen lang, andere viele viele Seiten.

Einige sind hier bereits auf der Website veröffentlicht, andere musst ich zweimal lesen, um mich zu erinnern, dass die tatsächlich von mir waren 🙂

Vielen Dank an https://www.claudia-heimann-autorenseite.com/ für die fantastische Umsetzung dieses Wahnsinnscovers.

Demnächst im Buchladen auffindbar… lang wirds nicht mehr dauern – geiler Shice, sag ich da 🙂

 

 

Gute Nacht 3 v. 3

Sarah und Papa spürten nichts davon!

„So“, sagte Papa. „Stunde vorbei, jetzt ist Ende!“

Sarah schloss das Buch und sah Papa an. „Kann das bei uns auch passieren“, fragte sie.

„Ach was, Mäuschen, das ist doch nur Science-Fiction“, sagte Papa. „Du kannst morgen weiterlesen.“

Er gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss und löschte das Licht.

„Gute Nacht, mein Schatz!“

„’Nacht, Papa!“

Gute Nacht 2 v. 3

Papa schloss die Augen. Er wollte nicht einschlafen, solange Sarah noch wach war.

Er streichelte ihren Kopf. „Nicht mehr lange“, sagte er.

Die Regierung hatte jetzt erst die Bevölkerung gewarnt. Die befürchtete Massenpanik blieb aus, was wohl daran lag, dass der Bevölkerung die konkrete Uhrzeit des Einschlags genannt wurde. Man fand sich mit seinem Schicksal ab.

„Eine Stunde noch“, sagte Papa und das war bereits 50 Minuten her.

Sarah lag in seinem Arm. Ihr Papa zog sie allein groß. Er hatte seine ursprüngliche Arbeit aufgegeben, lebte von Gelegenheitsjobs, denen er online nachging, während Sarah in der Schule war oder im Bett lag.

„Nicht mehr lange,“ sagte Papa und hielt Sarah fest im Arm.

Der riesige Eis- und Gesteinsbrocken durchbrach die Atmosphäre des Planeten und verlor einen Teil seiner Masse in einem atemberaubenden Schweif, der den Nachthimmel erleuchtete. Der Einschlag war gewaltiger, als alles, was dieser Planet jemals in seiner Vergangenheit zu spüren bekommen hatte.

Ohne Verzögerung war die Vibration auf allen Kontinenten zu spüren. Die Feuerwalze brannte sich mit Hunderten Kilometern pro Sekunde vom Einschlagsort aus über die komplette Oberfläche des Globus.

3 v. 3

Yeez’ Liste 8 v. 8

„Vielleicht solltest du mehr Sport machen!“

„Klasse Tipp!“ Man hörte den ironischen Unterton in Yeez Stimme.

„Naja“, sagte Claude, „wie auch immer du dich entscheidest, ich muss jetzt langsam mal los.“ Er legte das Kuvert auf den Tisch, das er bis eben immer noch in seinen Fingern hin und hergedreht hatte.

„Machs gut, Yeez. Ich komm heut nach Feierabend vielleicht nochmal vorbei!“ Claude trank den letzten Schluck aus und stellte die Tasse auf den braunen Fleck, der bereits in die Tischdecke eingezogen war.

„Hmm“ Yeez klang abwesend, als Claude die Tür zuzog. Ein eisiger Windhauch umwirbelte für ein paar Sekunden seine Beine.

Yeez öffnete das Kuvert. Fünf Seiten eines ausführlichen Berichts darüber, wie sich seine Handlungen auf die Leben anderer auswirkten.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“

Der Kaffee dampfte nicht mehr.

Yeez’ Liste 7 v. 8

Yeez hatte einen Nerv getroffen. Natürlich hatte Samantha sich selbst dazu entschlossen den Schlussstrich zu setzen. Vielleicht wäre sie aber gar nicht erst in die Lage gekommen, wenn sie einen anderen Job gehabt hätte. Einen der nicht soviel mit dieser Chemikalienscheiße zu tun gehabt hätte. Vielleicht war es an irgendeinem gottverdammten Tag, an dem sie zu viel von irgendwelchen scheiß Dämpfen einatmete. Vielleicht wurde ihr der Job von irgendjemandem angeboten. Vielleicht hatte sie auf eine Annonce in der Zeitung reagiert, die sie nie gesehen hätte, hätte der Typ am Kiosk sie weiter nach hinten gelegt oder später oder was weiß ich.

Man konnte nie wissen, wie das Leben einem mitspielte. Schuld? Schuld konnte man immer irgendjemandem zuweisen. Irgendjemand tat immer irgendetwas, was sich auf irgendjemand anderen auswirkte.

Der Kaffee dampfte vor sich hin.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“ Yeez schüttete Zucker in die Tasse und rührte um. „Was machst du heut noch?“, fragte er beiläufig seinen Freund.

„Ich muss gleich zur Arbeit, was glaubst du denn?“

„Bin noch krankgeschrieben!“

„Schon wieder?“

„Seit Dienstag!“

„Du bist ziemlich oft krank in letzter Zeit!“

„Das fünfte Mal dieses Jahr. Zwei Wochen im Februar, eine Woche im März, ein paar Tage im Juni und zwei Wochen im November!“ Er schaute aus dem Fenster. Eine Schneedecke bildete sich langsam auf dem Fensterbrett.

8 v. 8

Yeez’ Liste 6 v. 8

„Lass liegen!“, befahl Yeez. Der Kaffee dampfte vor sich hin und hinterließ einen Beschlag auf Claudes Brille.

„Was passiert denn schlimmstenfalls, wenn du ihn liest?“

„Was passiert denn schlimmstenfalls, wenn ich es nicht tue?“

Beide schwiegen.

„Darauf gibt es wohl keine eindeutige Antwort!“, sagte Claude schließlich.

„Wenn ich es tue, könnte das bereits das Leben eines anderen ändern. Wenn ich es vermeide ebenfalls. Und wenn ich ihn einfach entsorge, könnte ihn jemand anderes in die Finger kriegen. Stell dir vor du findest einen auf der Straße. Wenn jetzt auch noch Personen namentlich erwähnt werden…“

„Was meinst du?“

Yeez sah ihn an. „Der Tod deiner Frau damals!“

Claudes Augen weiteten sich. „Das hat nicht das geringste hiermit zu tun!“

„Wüsstest du nicht gerne, wer dafür verantwortlich ist?“

„Wenn jemand dafür verantwortlich ist, dann sie selbst!“ Claude nippte an dem Kaffee. Seine Stimme wurde merklich dünner. „Sie hat sich dazu willentlich selbst entschieden!“

„Vielleicht war es auch…“

„Was?“, unterbrach ihn Claude und wurde lauter. „Das ist fast sechs Jahre her. Wieso fängst du jetzt damit an? Es war Krebs, Herrgott noch mal!“ Er stellte die Tasse ab und hinterließ einen braunen Fleck auf der Tischdecke. „Sie hat sich selbst vor einem schlimmeren Ende bewahrt!“

7 v. 8

Yeez’ Liste 5 v. 8

„Das ist doch keine Lebensaufgabe!“, sagte Yeez lapidar und hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ich will es einfach nicht wissen. Ich find es schon belastend genug, dass man überhaupt in Kenntnis darüber gesetzt wird, dass man jemanden auf dem Gewissen hat! Dann muss ich nicht auch noch wissen, wen!“

„Und die Leute, die dir ihr Leben zu verdanken haben?“

„Willst du jetzt jedes Mal eine Medaille, wenn sowas passiert?“

„Ach was! Es ist nur…“

„Was?“

„Naja, sowas wie ein Ausgleich. Du weißt schon. Zu dem, was man getan hat!“

„Was haben wir denn getan?“, schrie Yeez wütend. „Wir haben überhaupt nichts getan! Verstehst du? Ü-ber-haupt-nichts!“ Yeez lies sich auf den Stuhl neben Claude fallen. „Wir leben doch nur unser Leben. Was wir jeden Tag unabsichtlich mit unseren Handlungen beeinflussen – das kann man uns doch nicht anlasten!“ Er schnippte an die Kaffeetasse.

„Deswegen steht es doch auch nicht unter Strafe. Es ist ja nach wie vor eine Information!“

„Scheiß auf die Information!“

Eine Weile sagte niemand etwas.

„Die Ungewissheit ist schlimmer, oder?“ Claude hielt wieder das Kuvert in der Hand.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“

„Öffnen oder nicht?“

6 v. 8

Yeez’ Liste 4 v. 8

„Man muss gar nichts erfahren! Wie schon gesagt. Sie hätten das Ding nicht erfinden sollen!“

„Wusstest du, dass jetzt auch Namen dabeistehen?“

Yeez hielt inne. Der Kaffee dampfte vor sich hin. „Namen?“

„Die Namen derer, die deinetwegen…“

„Ich weiß welche Namen!“, unterbrach ihn Yeez. „Und seit wann? Und wieso?“

Claude zuckte mit den Schultern. „Vielleicht soll dem ganzen noch eine zusätzliche Note verpasst werden!“

„Was für eine asoziale Scheiße!“ Yeez stellte seinen Kaffee ab.

„Du sagst ja selbst, du wirst nicht gezwungen, ihn zu öffnen. Kannst ihn auch direkt in den Müll befördern!“

„Wieso tun die so etwas?“

„Wer weiß das schon?“ Claude nippte an seinem Kaffee. „Gut!“, sagte er.

„Was?“

„Der Kaffee! Guter Kaffee!“

„Danke! Kommt auf Deutschland!“

„Aus Deutschland?“

„Ja! Deutschland!“

Claude stellte die Tasse ab. „Was hast du jetzt vor?“

5 v. 8

Yeez’ Liste 3 v. 8

Das alles las Claude etwas später in seinem Persönlichen Begleiterscheinungsschreiben des Determinismusrechnens. So funktionierte der Determinant. Yeez war es leid.

„Acht?“, wiederholte er.

„Acht“, sagte Claude. „Hey, aber immerhin habe ich zwei Leuten mal was Gutes getan. Anscheinend.“

Yeez wand sich ab. „Kaffee?“, fragte er Claude, während dieser am Tisch saß und das Kuvert in seinen Fingern drehte. „Yup!“, kam als Antwort. „Soll ich ihn aufmachen?“

„Nein, lass mal!“ Yeez wirkte zunehmend apathischer. „Ich weiß echt nicht, ob ich dazu heut den Nerv hab.“

„Du weißt noch, wie es dir letztes Mal ging, als du das Ding liegen lassen hast?“

„Hmm…“

Claude hielt das Kuvert gegen die Deckenlampe. Er schien zu hoffen, dass er etwas erkennen würde.

„Vergiss es! Da wirst du nichts sehen!“

„Schonmal ausprobiert?“

„Die sind doch doppelt verschweißt!“

Yeez drückte Claude die Kaffeetasse in die Hand. „Milch steht aufm Tisch!“

„Wieso willst dus nicht wissen? Ich hab mir gedacht, erfahren tu ich es doch eh. Dann kann ich auch gleich ins kalte Wasser springen!“

4 v. 8

Yeez’ Liste 2 v. 8

Über die Jahre wurden die Algorithmen komplexer. Künstliche Intelligenzen wurden eingesetzt und als eine der größeren Firmen das Startup kaufte, das den Determinanten auf den Markt brachte, programmierten sie einen viel größeren, leistungsfähigeren Determinanten, der dieselbe Idee verfolgte. Nur mit dem Unterschied, dass bei dieser Version alles zentral verwaltet war. Im Laufe der Zeit konnten angemeldete User sich per Nachrichten darüber informieren lassen, was sie an gewissen Zeitpunkten verpassten, hätten sie sich anders verhalten.

Die Regierung zeigte nach einiger Zeit ihr Interesse daran und so wurde nach heftigen Diskussionen ein Gesetz darüber erlassen, dass die User zumindest informiert werden müssen, was über sie gespeichert wurde. Desinteresse seitens der Benutzer kam dabei gar nicht erst zur Diskussion. Selbst wenn man die Einstellungen auf ein Minimum beschränkte, war das Ergebnis dasselbe. Man wurde darüber informiert, wie sich das Verhalten auf das Leben anderer auswirkte.

Nachdem der erste Hype verflogen war, kamen die ersten Fanatiker, die ernst genommen werden wollten. Vielleicht hielt die Regierung es für eine gute Idee, vielleicht wollten sie nur eine gute Publicity, vielleicht war es aber doch ein moralisch nötiger Grundgedanke. Mittlerweile bekam man am Ende des Monats eine Liste darüber, wieviel Leben man auf dem Gewissen hatte. Dafür reichte es manchmal schon aus, fünf Sekunden früher aus dem Haus zu gehen als sonst. Claude hatte letztes Jahr solch einen Fall. Er verließ das Haus später als sonst, weil seine Katze ausgebüxt war. Dadurch schnitt er morgens einem anderen Verkehrsteilnehmer den Weg ab, so dass dieser scharf bremsen musste. Nur 50 Sekunden später hätte dieser ansonsten noch die grüne Welle vor dem Frühstücksverkehr erwischt. Aufgrund von fünf Sekunden Verspätung musste der Kerl an jeder zweiten Ampel warten, kam dadurch zu spät in ein Meeting, verärgerte seinen Chef, verlor ein paar Tage später seine Arbeit, begann Selbstmord.

3 v. 8