Kaffee, Klemmbretter und kosmische Kapitulation


Ein ganz normaler Arbeitstag im Leben der Ex-Invasoren

General Vrr’tik von Zechtar-9, Eroberer von sechs Monden, Vernichter der Ätherflotte von Grax’loon, Träger des Großen Tentakelordens, saß an einem Schreibtisch.

Sein Helm diente jetzt als Stifthalter.

Seine rechte Hand – eine achtgliedrige, gepanzerte Klaue – versuchte gerade, eine Formularsammlung zum Thema „Büroklammern und ihr kultureller Kontext“ durchzublättern, ohne das Papier zu zerreißen.

Er scheiterte zum siebten Mal.

„Herr Vrr’tik, der Antrag auf ein neues Laminiergerät muss digital eingereicht werden“, sagte Sachbearbeiterin Dronni, ohne aufzusehen. „Analog ist nur noch für Rachegedanken zugelassen.“

„Ich habe einst eine Sonne verdunkelt!“, fauchte Vrr’tik.

„Ja, das stand in Ihrer Bewerbung. Sehr beeindruckend. Haben Sie denn Ihre IT-Fortbildung abgeschlossen?“

Vrr’tik brummte. Er war durch das Pflichtumschulungsprogramm für gescheiterte interstellare Invasoren geschleust worden – Modul A-1: „Von Galaxienherrscher zum Bürger mit Verantwortung“.




Seine Crew, die einst Planeten plünderte, arbeitete nun ebenfalls im Bürotrakt.

Lieutenant Slag war für den Papiervorrat zuständig und wurde von drei Praktikanten (ehemals Kampfroboter) liebevoll „Locherkönig“ genannt.

Navigatorin Xeltra, deren Hirn in fünf Dimensionen denken konnte, verarbeitete jetzt Feedbackbögen für Seminare wie „Einführung in passive-aggressive Kommunikation“.

Technikoffizier Glorp, der einst Singularitäten gezüchtet hatte, war jetzt für das Pausenraum-WLAN zuständig. Es funktionierte nie.





Einmal pro Woche traf sich das gesamte Team im Konferenzraum B („Zwangsharmoniezone“). Die Agenda:

1. Wichtige Änderungen in der Formularstruktur (z. B. 72-F jetzt mit zusätzlicher Rückseite)


2. Meditation mit Klangschalen


3. Kuchen (mit veganer Sternmilch)



Während einer Sitzung wagte Slag, eine Frage zu stellen:

„General… was ist aus uns geworden?“

Vrr’tik sah auf. Der Raum verstummte.

Er stand auf. Legte eine Kralle auf den Tagesordnungspunkt „Kaffeefilter-Richtlinien 2025“ und sagte:

„Wir kamen, um zu herrschen.
Wir blieben, um zu lernen.
Und wir haben die besten Büroklammern der Galaxie.“

Stille. Dann Applaus.




An diesem Tag wurde Formular 99-GI („Gruppenerlebnis mit interkultureller Bedeutung“) erfolgreich abgeschlossen.

Und Vrr’tik bekam eine neue Visitenkarte:

> Vrr’tik (ehem. General)
Leitung: Schrank 3A – Intergalaktische Ablage

Er lächelte.

Und tackerte zum ersten Mal in seinem Leben gerade.

Der Unsichtbarkeitsantrag

Aus dem Archiv des Amtes für Magische Ausnahmeregelungen, Bezirk Quasselwitz-Süd

Magie war auf Fnyll streng reguliert. Nicht, weil sie gefährlich war – das war sie natürlich –, sondern weil sie sich nicht an Formulare hielt. Und das war in Quasselwitz-Süd ein Kardinalverbrechen.

Herr Neblich, ein ausgesprochen durchschnittlicher Bürger mit einer Leidenschaft für muffige Aktenordner, hatte einen Traum: Er wollte unsichtbar sein.

Nicht aus Eitelkeit oder zur Spionage. Nein. Herr Neblich hasste Smalltalk. Und Supermarktgänge. Und Menschen, die beim Bus vordrängelten. Unsichtbarkeit versprach eine friedliche, diskrete Existenz.

Also stellte er einen Antrag: Formular 12-U „Bürgerliches Unsichtbarkeitsbegehren“. Siebzehn Seiten, acht Unterschriften, zwei Blutproben (eine von ihm, eine von einem legal beschafften Hühnchen).

Das Amt antwortete vier Wochen später. Es fehlte:
– Unterschrift eines anerkannten Magiers dritten Ranges
– Nachweis über ausreichende Haftpflichtversicherung
– Psychologische Eignungsprüfung

Neblich murmelte: „Man wird doch wohl unsichtbar sein dürfen, ohne gleich ein Studium der Arkaneinwirkung zu absolvieren.“

Doch er war beharrlich. Er besuchte den zertifizierten Magier Eustach von Bröckel, der in einer windschiefen Hütte lebte, weil alle seine Zauber eine räumliche Linksdrift verursachten.

„Ich unterschreib dir das“, sagte Eustach, „wenn du mir im Gegenzug hilfst, mein Wohnzimmer wieder in die Realität zurückzubefördern.“

Ein fairer Handel, dachte Neblich, nachdem er zwei Stunden lang gegen eine Wand gewunken hatte, bis das Sofa endlich wieder sichtbar war. Es roch nach Sardinen. Niemand wusste warum.

Formular komplett. Antrag genehmigt. Unsichtbarkeitszauber aktiviert.

Er war glücklich. Er konnte unbemerkt durch die Straßen gleiten, den Supermarkt besuchen, ohne einen Blick zu riskieren. Niemand sprach ihn an. Keiner trat ihm auf die Füße.

Nach drei Tagen wurde er depressiv.

Niemand grüßte. Kein einziges „Oh, Sie wieder!“ an der Brottheke. Und er vermisste die alte Dame mit dem übergroßen Hut, die im Bus immer zu laut über ihren Dackel sprach.

Nach einer Woche saß Herr Neblich wieder beim Amt.

„Ich… äh… würde gern das Formular für Sichtbarkeit beantragen.“

Der Sachbearbeiter seufzte. „13-V. Bitte achten Sie diesmal auf die Fußnote C – Sichtbarkeit umfasst keinen sozialen Kontakt. Dafür brauchen Sie das 13-S.“

„Das ist mir egal. Ich will einfach nur wieder gesehen werden.“

Er ging nach Hause, sichtbar. Und als der Nachbarsjunge ihm beim Hochtragen der Einkaufstüte zunickte, wusste Neblich, was Magie wirklich bedeutete.

Nicht Unsichtbarkeit. Nicht Macht.

Sondern ein kleines „Hallo“, wenn man es am wenigsten erwartet.

Die Bürokratie der Götter

Eine Begebenheit aus dem nördlichen Kesselland von Fnyll

Es begann, wie viele Katastrophen beginnen: mit einem Formular.

Genauer gesagt: Formular 99-B, Antrag auf temporäre Göttlichkeit wegen akuter Lebensgefahr.

Der kleine, stets schwitzende Archivar Jandor Wimmel hatte es aus Versehen im falschen Regal eingeordnet – und zwar in das Fach für „Genehmigungen zur Planetenrotation“. Was dazu führte, dass der Planet Fnyll einen halben Tag lang rückwärts rotierte, die See zum Himmel floss, und der Bürgermeister von Dammweiler plötzlich rückwärts sprach, allerdings nur in Versform.

„Eine Rückwärtswelt, wie’s scheint, mein Freund / wo selbst die Zeit sich rückwärts träumt“, sagte er beim morgendlichen Schneckenkongress.

Jandor, der von alldem nichts wusste, saß im Archiv und sortierte weiter Papiere. Er liebte Papier. Es roch nach Ordnung und klang nach Sicherheit. Bis eine Gottheit erschien.

Sie materialisierte sich in einer Rauchwolke, inmitten der Teeküche, und griff sich sofort den letzten Apfelkeks.

„Ich bin Lurmis, Gott der winzigen Irrtümer. Und ich möchte mich offiziell bedanken.“

„Äh… wofür?“, fragte Jandor mit einem Anflug von Schnappatmung.

„Na, für die versehentliche Antragseinreichung. Die hat mir zu einer vorübergehenden Beförderung verholfen. Ich bin jetzt zuständig für mittlere Missgeschicke.“

„Das war ein Versehen.“

„Natürlich war’s das. Genau deshalb! Mein Bereich, weißt du.“

Lurmis grinste und ließ einen Stuhl explodieren – versehentlich. Dann las er Jandors Notizen auf dem Schreibtisch.

„Du denkst, die Welt sollte weniger chaotisch sein, ja? Ordnung und Klarheit?“

Jandor nickte vorsichtig. Es war schwer, mit einer Gottheit zu diskutieren, besonders einer, deren Bart aus Teekrümeln bestand.

„Na schön“, sagte Lurmis. „Du bekommst einen Tag mit absoluter Ordnung. Keine Fehler. Kein Chaos. Nur reibungsloser Ablauf.“

Jandor war begeistert. Bis der Tag kam.

Die Leute in Fnyll bewegten sich exakt nach Plan. Niemand vergaß Geburtstage. Ampeln funktionierten. Keine Katze sprang auf fremde Tische. Und niemand stellte blöde Fragen bei Behörden.

Nach drei Stunden war die Stadt still. Todstill. Niemand lachte. Niemand fluchte. Nicht einmal ein Kind stolperte.

Am Nachmittag trat Jandor mit einem zerknüllten Formular in der Hand in die Teeküche.

„Ich… ich möchte bitte wieder ein bisschen Chaos.“

Lurmis lachte. „Sag ich doch.“

Er schnippte, der Planet zuckte – und jemand schrie draußen: „MEIN HAMSTER IST EIN BALLON!“

Alles war wieder in Ordnung.

Irgendwie.

Kurzgeschichtenanthologie

Während sich die Korrekturphase für den nächsten Teil der Fnyllreihe noch bis zum Herbst hinziehen wird, gibt’s dafür bald eine schöne erste Sammlung von Kurzgeschichten.

Manche sind nur ein paar Zeilen lang, andere viele viele Seiten.

Einige sind hier bereits auf der Website veröffentlicht, andere musst ich zweimal lesen, um mich zu erinnern, dass die tatsächlich von mir waren 🙂

Vielen Dank an https://www.claudia-heimann-autorenseite.com/ für die fantastische Umsetzung dieses Wahnsinnscovers.

Demnächst im Buchladen auffindbar… lang wirds nicht mehr dauern – geiler Shice, sag ich da 🙂

 

 

Gute Nacht 3 v. 3

Sarah und Papa spürten nichts davon!

„So“, sagte Papa. „Stunde vorbei, jetzt ist Ende!“

Sarah schloss das Buch und sah Papa an. „Kann das bei uns auch passieren“, fragte sie.

„Ach was, Mäuschen, das ist doch nur Science-Fiction“, sagte Papa. „Du kannst morgen weiterlesen.“

Er gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss und löschte das Licht.

„Gute Nacht, mein Schatz!“

„’Nacht, Papa!“

Gute Nacht 2 v. 3

Papa schloss die Augen. Er wollte nicht einschlafen, solange Sarah noch wach war.

Er streichelte ihren Kopf. „Nicht mehr lange“, sagte er.

Die Regierung hatte jetzt erst die Bevölkerung gewarnt. Die befürchtete Massenpanik blieb aus, was wohl daran lag, dass der Bevölkerung die konkrete Uhrzeit des Einschlags genannt wurde. Man fand sich mit seinem Schicksal ab.

„Eine Stunde noch“, sagte Papa und das war bereits 50 Minuten her.

Sarah lag in seinem Arm. Ihr Papa zog sie allein groß. Er hatte seine ursprüngliche Arbeit aufgegeben, lebte von Gelegenheitsjobs, denen er online nachging, während Sarah in der Schule war oder im Bett lag.

„Nicht mehr lange,“ sagte Papa und hielt Sarah fest im Arm.

Der riesige Eis- und Gesteinsbrocken durchbrach die Atmosphäre des Planeten und verlor einen Teil seiner Masse in einem atemberaubenden Schweif, der den Nachthimmel erleuchtete. Der Einschlag war gewaltiger, als alles, was dieser Planet jemals in seiner Vergangenheit zu spüren bekommen hatte.

Ohne Verzögerung war die Vibration auf allen Kontinenten zu spüren. Die Feuerwalze brannte sich mit Hunderten Kilometern pro Sekunde vom Einschlagsort aus über die komplette Oberfläche des Globus.

3 v. 3

Yeez‘ Liste 8 v. 8

„Vielleicht solltest du mehr Sport machen!“

„Klasse Tipp!“ Man hörte den ironischen Unterton in Yeez Stimme.

„Naja“, sagte Claude, „wie auch immer du dich entscheidest, ich muss jetzt langsam mal los.“ Er legte das Kuvert auf den Tisch, das er bis eben immer noch in seinen Fingern hin und hergedreht hatte.

„Machs gut, Yeez. Ich komm heut nach Feierabend vielleicht nochmal vorbei!“ Claude trank den letzten Schluck aus und stellte die Tasse auf den braunen Fleck, der bereits in die Tischdecke eingezogen war.

„Hmm“ Yeez klang abwesend, als Claude die Tür zuzog. Ein eisiger Windhauch umwirbelte für ein paar Sekunden seine Beine.

Yeez öffnete das Kuvert. Fünf Seiten eines ausführlichen Berichts darüber, wie sich seine Handlungen auf die Leben anderer auswirkten.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“

Der Kaffee dampfte nicht mehr.

Yeez‘ Liste 7 v. 8

Yeez hatte einen Nerv getroffen. Natürlich hatte Samantha sich selbst dazu entschlossen den Schlussstrich zu setzen. Vielleicht wäre sie aber gar nicht erst in die Lage gekommen, wenn sie einen anderen Job gehabt hätte. Einen der nicht soviel mit dieser Chemikalienscheiße zu tun gehabt hätte. Vielleicht war es an irgendeinem gottverdammten Tag, an dem sie zu viel von irgendwelchen scheiß Dämpfen einatmete. Vielleicht wurde ihr der Job von irgendjemandem angeboten. Vielleicht hatte sie auf eine Annonce in der Zeitung reagiert, die sie nie gesehen hätte, hätte der Typ am Kiosk sie weiter nach hinten gelegt oder später oder was weiß ich.

Man konnte nie wissen, wie das Leben einem mitspielte. Schuld? Schuld konnte man immer irgendjemandem zuweisen. Irgendjemand tat immer irgendetwas, was sich auf irgendjemand anderen auswirkte.

Der Kaffee dampfte vor sich hin.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“ Yeez schüttete Zucker in die Tasse und rührte um. „Was machst du heut noch?“, fragte er beiläufig seinen Freund.

„Ich muss gleich zur Arbeit, was glaubst du denn?“

„Bin noch krankgeschrieben!“

„Schon wieder?“

„Seit Dienstag!“

„Du bist ziemlich oft krank in letzter Zeit!“

„Das fünfte Mal dieses Jahr. Zwei Wochen im Februar, eine Woche im März, ein paar Tage im Juni und zwei Wochen im November!“ Er schaute aus dem Fenster. Eine Schneedecke bildete sich langsam auf dem Fensterbrett.

8 v. 8

Yeez‘ Liste 6 v. 8

„Lass liegen!“, befahl Yeez. Der Kaffee dampfte vor sich hin und hinterließ einen Beschlag auf Claudes Brille.

„Was passiert denn schlimmstenfalls, wenn du ihn liest?“

„Was passiert denn schlimmstenfalls, wenn ich es nicht tue?“

Beide schwiegen.

„Darauf gibt es wohl keine eindeutige Antwort!“, sagte Claude schließlich.

„Wenn ich es tue, könnte das bereits das Leben eines anderen ändern. Wenn ich es vermeide ebenfalls. Und wenn ich ihn einfach entsorge, könnte ihn jemand anderes in die Finger kriegen. Stell dir vor du findest einen auf der Straße. Wenn jetzt auch noch Personen namentlich erwähnt werden…“

„Was meinst du?“

Yeez sah ihn an. „Der Tod deiner Frau damals!“

Claudes Augen weiteten sich. „Das hat nicht das geringste hiermit zu tun!“

„Wüsstest du nicht gerne, wer dafür verantwortlich ist?“

„Wenn jemand dafür verantwortlich ist, dann sie selbst!“ Claude nippte an dem Kaffee. Seine Stimme wurde merklich dünner. „Sie hat sich dazu willentlich selbst entschieden!“

„Vielleicht war es auch…“

„Was?“, unterbrach ihn Claude und wurde lauter. „Das ist fast sechs Jahre her. Wieso fängst du jetzt damit an? Es war Krebs, Herrgott noch mal!“ Er stellte die Tasse ab und hinterließ einen braunen Fleck auf der Tischdecke. „Sie hat sich selbst vor einem schlimmeren Ende bewahrt!“

7 v. 8

Yeez‘ Liste 5 v. 8

„Das ist doch keine Lebensaufgabe!“, sagte Yeez lapidar und hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ich will es einfach nicht wissen. Ich find es schon belastend genug, dass man überhaupt in Kenntnis darüber gesetzt wird, dass man jemanden auf dem Gewissen hat! Dann muss ich nicht auch noch wissen, wen!“

„Und die Leute, die dir ihr Leben zu verdanken haben?“

„Willst du jetzt jedes Mal eine Medaille, wenn sowas passiert?“

„Ach was! Es ist nur…“

„Was?“

„Naja, sowas wie ein Ausgleich. Du weißt schon. Zu dem, was man getan hat!“

„Was haben wir denn getan?“, schrie Yeez wütend. „Wir haben überhaupt nichts getan! Verstehst du? Ü-ber-haupt-nichts!“ Yeez lies sich auf den Stuhl neben Claude fallen. „Wir leben doch nur unser Leben. Was wir jeden Tag unabsichtlich mit unseren Handlungen beeinflussen – das kann man uns doch nicht anlasten!“ Er schnippte an die Kaffeetasse.

„Deswegen steht es doch auch nicht unter Strafe. Es ist ja nach wie vor eine Information!“

„Scheiß auf die Information!“

Eine Weile sagte niemand etwas.

„Die Ungewissheit ist schlimmer, oder?“ Claude hielt wieder das Kuvert in der Hand.

„Jeden Monat dieselbe Kacke!“

„Öffnen oder nicht?“

6 v. 8