Gilbert

Gilbert rann der Schweiß von der Stirn. In der Dämmerung sah er nur etwas Großes auf sich zukommen.

Er hatte keine Lust mehr.

Keine Lust mehr zu kämpfen. Keine Lust mehr, weiterhin den Fußabstreifer zu spielen. Keine Lust mehr, sich rechtfertigen zu müssen vor Personen, die er nicht mal kannte.

Guten Tag, sagte die monströse Gestalt vor ihm stehend. Gilbert ballte die Fäuste.

Können Sie mir sagen, wo ich Regenschirme finde?

3. Stock! knirschte Gilbert durch die Zähne.

Er hasste seinen Job.

Simon

Mit einem Mal war die Versorgungskette unterbrochen. Niemand hatte es kommen sehen.

Keinen General, keinen Lieutenant, keinen Wissenschaftler gab es, der das Volk auf eine solche Situation vorbereitet hätte. Dutzende, die für das Verteilen der Nahrung verantwortlich waren, irrten chaotisch umher. Manche sahen die Gefahr eher als andere.

Die Hitze des Laserstrahls war auch noch in einiger Entfernung zu spüren, als sie wie ein Messer durch die Ansammlung schnitt und nur verdorrte Kadaver zurücklies.

Grinsend betrachtete Simon die Szenerie, als er seinen Namen hörte.

„Ja, Mama, ich komm gleich!“

Simon legte das Vergrößerungsglas beiseite und ging ins Haus.

perfektes Leben

„Was für ein Wahnsinnshaus!“

„Nicht wahr? Hat auch ziemlich lange gedauert, bis es endlich mal so war, dass es mir gefällt!“

„Die Tapeten sind der Hammer. Was ist das für ein Stil?“

„Keine Ahnung, wie man das nennt. Das ist so ein 60er Jahre Muster.“

„Kommt voll gut. Was arbeitest du eigentlich?“

„Bin Aufseher in einem Kraftwerk.“

„Echt? Wie kommt man denn zu sowas?“

„Durch die Zeitungsannoncen. Ich hab einfach gewartet, bis das Richtige dabei war und dann direkt zugesagt.“

„Nicht schlecht. Bist du eigentlich nicht verheiratet?“

„Nö. War ich bis vor kurzem noch. Hat mich dann aber so gestresst, dass ichs wieder sein lassen hab.“

„Echt so schlimm?“

„Das war voll zeitraubend. Ich bin immer später ins Bett gekommen und hab dann beinahe den Job verloren. War kurz vor ner Depression und bin ne Zeitlang nur noch rumgehangen und hab rumgeheult. Dann hab ich nen Schlussstrich gezogen.“

„Konsequent! Klar, sonst kommst man ja auch nicht so weit!“

„Eben.“

 

„Und was machst du sonst so?“

„Was meinst du?“

„Wenn du mal nicht SIMS spielst, meine ich.“

„Ach so. Nicht viel. Bin arbeitslos zur Zeit.“

„Ach so.“

 

„Aber cooler Pool, oder?“

„Klar man! Geiler Pool!“

Datenforensik

Dipl. Ing. Dr. Peter Plotter war seit über 30 Jahren als Forensischer Datenanalytiker tätig. In den 70ern waren die Bilder, die er auswerten musste, auf eine seltsame Weise erträglicher. Nicht so detailliert. Nicht so farbecht. Nicht so hochauflösend. Heute konnte man selbst in einem kleinen Ausschnitt eines Fotos noch den Schmerz der Opfer spüren. Minimale Blutspritzer an der Wand, an Bettlaken oder auf der Haut waren beim näheren Heranzoomen auszumachen.

Je kleiner die Särge wurden, umso schwerer war die Last zu tragen.

Plotter war selbst Vater. Sein Sohn Paul war mittlerweile erwachsen und hatte in Hamburg Informatik studiert. Manchmal war es unerträglich, da nie sonderlich viel Zeit für die Familie übrig war. Wenn Paul es beispielsweise mal nicht schaffte, über die Feiertage nach Hause zu kommen, wurde er mit Fresspaketen von seinen Eltern versorgt.

Plotter wurde nicht zum ersten Mal übel, als er die Fotos des Tatortes begutachtete. Aber die Technik hatte auch ihr Gutes. Sie würden diesen perversen Mistkerl schnappen, der für dieses Massaker verantwortlich war.

Plotter untersuchte die sichergestellte Festplatte auf weitere Dateien. Sie war eines der wenigen Überbleibsel aus dem Feuer, das der Täter in seiner Behausung gelegt hatte, um seine Spuren zu verwischen.

Plotter stolperte über einen Ordner mit gespeicherten Mails. Private Mails, die schon etliche Jahre alt gewesen sein mussten. Es war nur noch ein kleiner Teil davon zu retten, aber selbst wenige Zeilen konnten manchmal ein Indiz liefern.

Danke für das Fresspaket!
Ich vermisse Euch. Grüß Mama von mir.
Hab Euch lieb, Paul

der Clown

Ein freundliches Lachen zeichnet sein Gesicht aus.

Der dicke, rote Mund strahlt fröhlich vor sich hin.

Die helle Schminke auf seiner Haut lässt Schweißtropfen der Anstrengung einfach abperlen.

Ein Clown wie er im Buche steht.

 

Dem Publikum stockt der Atem, als er seinen Trick aufführt.

 

Mit seinen Tricks verdient er einiges.

Natürlich freut er sich am meisten.

Er verlässt die Bank mit einer Menge Geld.

der Spieler

Ein Mann sitzt in der Fußgängerzone, vor sich einen Hut. Hoffend, dass die Menschen ihn bemerken. Er tut etwas dafür. Er spielt sein Instrument.

Dieser Mann beherrscht sein Instrument gut. Sehr gut sogar. Als er es ansetzt, wandert kurze Zeit später ein Lächeln über sein Gesicht.

Es scheint das Einzige zu sein, was ihm Halt gibt. Er scheint sonst nicht viel zu besitzen.

Die Leute werden aufmerksam auf ihn. Schauen ihn an. „Guck mal der da!“, heißt es von einigen. „Mama, was macht der Mann?“, fragt so manches Kind.

Er spielt sein Instrument. Seine eigene Melodie. Die nur er hören kann. Lächelnd verdreht er die Augen. Sein Instrument fällt auf den Boden. Die Nadel bricht ab.

Jennifer

„Abendessen ist fertig!“

Katelyn hatte ordentlich aufgetischt.

Marc gefiel das. Und es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ihm wieder etwas gefiel, das Katelyn machte. In den letzten Jahren war ihre Ehe ziemlich eingeschlafen.

Jetzt hatte er sogar ein schlechtes Gewissen, dass er sie mit Jennifer betrog.

 

Der Braten war köstlich.

Weich. Zart. Saftig. Die Soße dazu ein Traum. Selbstgemachte Kroketten. Salat. Nachtisch.

 

Eigentlich wollte er sich heute mit Jennifer zum Abendessen treffen. Aber das konnte er auch noch absagen.

Er ging in die Küche und schrieb eine SMS an Jennifer.

Der Klingelton kurz darauf kam aus der Mülltonne.

 

Der Braten war köstlich.

Reese

Er vermied es mittlerweile mit seinen Haustieren die Strecke an den Feldern entlangzulaufen, da die Angst immer noch zu tief in ihm saß. Vor knapp zwei Jahren war er das letzte Mal hier. Bingo hatte es damals sichtlich genossen, durch die hohen Maisfelder zu springen und alles zu beschnüffeln.

Jetzt hatte er immer Angst um seine Tiere, wenn er mit ihnen draußen war.

Sie hatten den Täter nie erwischt, der Bingo das angetan hatte. Stundenlang quälte er sich. Blutiger Stuhl, Blutiger Auswurf. Eine ganze Nacht lang quälendes Jaulen.

Heute fuhr er zum selben Feld, an dem Bingo damals den vergifteten Fleischklumpen gefressen hatte.

Reese schnüffelte aufgeregt.

Reese war Bingos Nachfolger. Er saß auf der Ladefläche seines Trucks. Er war um einiges größer als Bingo.

Er hielt an und öffnete die Ladepritsche. Reese sprang direkt runter und sauste in das Maisfeld. Kurz darauf ertönten die ersten qualvollen Schreie.

 

Sie hatten den Täter nie erwischt.

Er hatte ihn erwischt.

Reese würde wahrscheinlich mächtig Spaß mit ihm haben.

Wildschweine fressen alles.

Märchenstunde 1 v. 2

„Schau nur!“, rief sie und zeigte mit ihren kleinen Fingern auf das große bunte Etwas über ihren Köpfen. Der Wind hatte ihre blonden Haare zerzaust und der rote Regenmantel war gesprenkelt von kleinen Dreckspritzern, die sie in ihrer Erscheinung einem großen Marienkäfer gleichen ließ. Es war kalt hier, mitten auf dem Feld. Die Natur, die sie sonst zu sehen bekam, bestand aus einem kleinen Park mit Spielplatz, der zwei Straßen neben ihrer Wohnung angelegt worden war. Rollschuh fahren war dort verboten. Hunde waren dort verboten. Lärmen war dort verboten. Doch jetzt stand sie mitten auf diesem gigantischen schneebedeckten Feld und blickte mit ihren großen, braunen Augen in den wolkenverhangenen Himmel.

„Schau nur!“, rief sie noch lauter und zog ihren Vater am Ärmel. Über ihren Köpfen schwebte es fast lautlos, nur ab und zu fauchend, vorüber.

„Ich seh ihn ja, Paula. Ich seh ihn.“ Ihr Vater stand direkt neben ihr.

Der Heißluftballon schmolz sich seinen Weg durch dicke, eisige Luft um kurze Zeit später mit einem Fauchen wieder von den Wolken verschlungen zu werden. Gebannt starrte Paula noch minutenlang auf die Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Der Wind blies heftiger und an ihrer kleinen Nase formte sich ein Tröpfchen, das sie ohne Mühe abschüttelte und die Ringe zählte, die es beim Aufprall in einer Pfütze hinterließen. Langsam trottete sie hinter ihrem Vater her, fasziniert von dem matschigen Schuhabdrücken anderer, die vorher diesen Feldweg für sich beanspruchten. Hier und da erkannte man Spuren von einem Hund und Paula dachte darüber nach, wie es wohl sein müsse, nur mit einem Fell bekleidet durch den Wald zu laufen. Sie fröstelte bei dem Gedanken. Schließlich hatte sie heute außer ihrer roten Regenjacke noch zwei Unterhemden und einen dicken Pulli an, den ihr ihre Mama zum Geburtstag strickte.

2 v. 2